Rede von Dr. Winfried Wolf auf der 400. Montagsdemo am 15. Januar 2018

Hegel und Stuttgart 21 – oder: „… dass diese Furcht, den Irrtum einzugestehen, schon der Irrtum selbst ist.“

Liebe Freundinnen, liebe Freunde,

hier über uns – an der Frontseite von dem, was vom denkmalgeschützten Stuttgarter Bonatzbau übrig blieb – können wir den Spruch lesen: „… dass diese Furcht zu irren schon der Irrtum selbst ist.“

Am 28. Februar 2013 gab es im großen Blatt dieser Stadt zu diesem Zitat des „großen Sohnes“ dieser Stadt einen Artikel mit der Überschrift „Hegel im Dienst von Stuttgart 21“. In der „Stuttgarter Zeitung“ konnte man lesen: Die Neonschrift mit dem Hegel-Spruch sei 1993 mit viel Hintersinn an der Bahnhofsfassade angebracht worden war. Dann wörtlich: „Im selben Jahr begann die Arbeit an der Machbarkeitsstudie von ‚Stuttgart 21‘“. Hegel habe immer über „Bedenklichkeiten“ gespottet, die sich seinem Programm, „die absolute Wahrheit des Geistes zu erfassen“ in den Weg gestellt hätten. Diejenigen, die S21 von langer Hand geplant hätten, hätten mit dem Hegel-Zitat von vornherein den „Bedenkenträgern, die großen Projekten misstrauten“ und „die Furcht zu irren“ nicht unterdrückten, den Wind aus den Segeln nehmen wollen. Die Bilanz des Schlaumeier-Autors: „So wurde Hegel, zu dessen Lebzeiten es noch gar keine Eisenbahn gab, als Vordenker, Mitstreiter und Propagandist einer neuen Eisenbahnlinie“ – von Stuttgart 21 – ‚in Dienst genommen‘“.

Das ist eine ziemlich steile These. Für die es – wir haben dazu den langjährigen Bahnchef und verdienten S21-Gegner Egon Hopfenzitz gefragt – keinerlei Beweis gibt. Da stimmt bereits nicht, dass es zu Hegels Lebzeiten keine Eisenbahnen gegeben hätte. Hegel konnte in den letzten sechs Jahren seines Lebens den grandiosen Siegeszug der Eisenbahn erleben: beginnend 1825 mit der Strecke Stockton – Darlington, 1826 mit Liverpool –Manchester, 1829 mit Baltimore – Ellicot Mills. Als Hegel 1831 starb, gab es in England und in den USA bereits mehr als 500 km Eisenbahnstrecken.

Richtig aber ist: Der Hegelsche Spruch ist cool. Man darf keine Furcht vor großen Ideen haben. Und schon gar nicht bei der Suche nach der Wahrheit. Doch die Wahrheit wiederum ist konkret. Und die großen Ideen müssen sich in der Wissenschaft und in der Praxis beweisen.

Doch von der „großen Idee Stuttgart 21“ konnte rein gar nichts bewiesen werden. Das Projekt ist ein Irrtum selbst! Und es steckt voller Irrtümer. Insoweit erhält der Spruch heute eine völlig neue Bedeutung. Worauf zurückzukommen sein wird.

Der große Irrtum Stuttgart 21 besteht aus sieben Einzel-Irrtümern. Wie so oft bei Stuttgart 21 lässt sich natürlich auch sagen, es seien sieben mal sieben mal sieben Irrtümer. Aber lasst uns mal bei der biblischen Zahl sieben bleiben (sieben Wochentage, sieben Lampen am Goldenen Leuchter, die sieben Gräuel im Herzen des Menschen, sieben Todsünden und so weiter und so zu Stuttgart 21 fort):

Irrtum Nr. 1: „Stuttgart 21 finanziert sich selbst“ – vor allem durch Geländeverkauf. So lautete die Ausgangsthese, als das Hegel-Zitat an der Front des noch unversehrten Bahnhofs frisch erstrahlte. Ich erspare mir und Euch die einzelnen Etappen der Kostensteigerungen. Nehmen wir nur Grubes Feststellung aus dem Jahr 2011: „4,5 Milliarden Euro sind die Sollbruchstelle.“ Ab dieser Marke werde das Projekt „unwirtschaftlich“. Im vergangenen November musste Bahnvorstand Pofalla die neueste Kostensteigerung eingestehen – nunmehr sind es bahnoffiziell 7,9 Milliarden Euro Gesamtkosten. Laut Bundesrechnungshof sind es rund 9,5 Milliarden – doppelt so viel wie besagte Solbruchstelle. Bereits jetzt ist Stuttgart 21 das teuerste Infrastrukturprojekt Deutschlands. Und wir alle wissen: Es gibt eine nach oben offene Kostenskala.

Irrtum Nr. 2: S21 bedeutet Kapazitätserweiterung. Das behauptet inzwischen niemand ernsthaft mehr. S21 wird nur zwei Durchfahrgleise mehr haben als Bietigheim-Bissingen. Oder auch: S21 hat (mit der S-Bahn) zehn Durchfahrgleise. Doch der Nürnberger Hbf benötigt derer 22. Das deutlich kleinere Nürnberg benötigt deutlich mehr als das Zweifache an Durchfahrgleisen. In Wirklichkeit trifft das Gegenteil des Behaupteten zu: Stuttgart 21 ist das einzige Großprojekt in Deutschland, bei welchem mit viel und immer mehr Geld Kapazität abgebaut wird. Damit wird im Übrigen auch der Integrale Taktfahrplan im Südwesten für immer verunmöglicht. Obgleich die alte GroKo-Regierung eben diesen Deutschlandtakt forderte. Und obgleich im vorgestern veröffentlichten Papier zu einer neuen GroKo steht, man werde den „Schienenverkehr fördern“.

Irrtum Nr. 3: Stuttgart 21 sei ein „moderner“ und „sicherer Bahnhof“. Tatsächlich wäre Stuttgart 21 der einzige Bahnhof weltweit, der mit 15 Promille eine kriminell starke Gleisneigung aufweist, womit das Leben der Fahrgäste gefährdet wird. Tatsächlich bauen die bis heute an einem Bahnhof, für den es kein genehmigungsfähiges Brandschutzkonzept gibt. Tatsächlich heißt es im KPMG-Gut­achten zum Thema Tunnelbau im Anhydrit wörtlich: Es gibt „keine bautechnische Lösung, welche eine risikofreie Nutzung [der S21-Tunnelbauten] über Jahrzehnte zuverlässig sicherstellen kann.“ Wohlgemerkt: Das Gutachten wurde von der DB AG bestellt und bezahlt. Das Gutachten ist als „streng vertraulich“ klassifiziert, eben wegen dieser und vergleichbarer Aussagen. Und was macht die Bahn und die von ihr bezahlte Spezialfirma? Risse im Anhydrit-Untergrund, durch die Wasser treten kann, werden mit Silikon – oder einer Acryl-Masse – abgedichtet. Wir alle wissen, wie Acryl oder Silikon z.B. in einer Dusche nach drei oder fünf Jahren aussieht. Das ist Pfusch am Bau, mit dem – siehe Staufen im Breisgau – der gesamte Stadtuntergrund gefährdet wird.

Irrtum Nr. 4: „Stuttgart 21 verkürzt die Fahrtzeiten“. Tatsächlich wird jetzt, wo sich S21 ein weiteres Mal verzögert und die Neubaustrecke früher als gedacht fertigerstellt wird, deutlich: die einzige Fahrtzeitverkürzung, die es geben wird, entsteht mit der Neubaustrecke nach Ulm. Und selbst die ist mit 7-10 Minuten wesentlich geringer als die 23-minütige Fahrtzeitverlängerung, die es zwischen Stuttgart und München seit 1994 gab.

Irrtum Nr. 5: „Von Stuttgart 21 profitiert die gesamte Region“ – u.a. durch die Flughafen-Anbindung an den Fernverkehr und durch Fernverkehrszüge auch im Filstal. Tatsächlich wurde in den letzten Tagen das Versprechen, wonach Göppingen und Plochingen im Filstal weiter in den Fernbahnverkehr eingebunden bleiben würde, komplett kassiert. Beim Flughafen, wo ja noch nicht einmal klar ist, wo es denn auf den Fildern einen neuen Fernbahnhof geben soll, ist auch seit ein paar Tagen klar: im besten Fall werden hier drei Fernbahnzüge pro Tag den Airport anfahren. Wie versprochen, so gebrochen. Ganz zu schweigen vom S-Bahn-Chaos, das mit Stuttgart 21 betoniert wird.

Irrtum Nr. 6: „Stuttgart 21 ist ein schnell durchgeführtes, gut geplantes Bauprojekt, das kaum Belastungen für die Stadt und die Bevölkerung mit sich bringt.“ Tatsächlich befinden wir uns im achten Jahr seit Baubeginn. Der Zeitpunkt der erwarteten Inbetriebnahme wurde vor ein paar Wochen um weitere zwei bis drei Jahre – aktuell auf 2024 – hinausgeschoben. Das wären dann rund eineinhalb Jahrzehnte Bauzeit. Mit Abbau des Gleisvorfelds sind es zwei Jahrzehnte. Und wir alle wissen: Der Bau wird nie fertig werden. Was für die Verantwortlichen den Vorteil hat, dass ihr Lügentunnelgebäude nie einem Praxistest unterzogen werden wird.

Irrtum Nr. 7: „Stuttgart 21 ist ein grünes, ein urbanes Projekt.“ So Ex-Bahnchef Grube bei Baubeginn. Tatsächlich wurde mit S21 bereits der denkmalgeschützte Bonatzbau zerstört. Der prächtige Mittlere Schlossgarten mit dem hundert- und mehrjährigen Baumbestand wurde abgeholzt. Eine weitere Bebauung des aktuellen Gleisvorfelds würde die Bodenspekulation noch mehr anheizen, die Mietpreise weiter ansteigen lassen. Damit würde der kleine und mittelgroße Einzelhandel noch schwindsüchtiger bzw. vom Markt gefegt. Kurz: Stuttgart 21 ist stadtzerstörend. Ist Immobilienspekulation. Ist anti­urban.

Liebe Freundinnen, liebe Freunde,

Mit diesen sieben Irrtümern – und es werden, gemach! gemach!, weitere Irrtümer hinzukommen – sind wir exakt da angelangt, wo ich am Beginn meiner Rede stand: beim „großen Sohn dieser Stadt“. Hegel war es, der in seiner Schrift „Die Wissenschaft der Logik“ feststellte: „Alle Dinge sind an sich widersprechend.“ Er war es, der sogar – hier im Text „Die Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften“ – ausführte: „Was überhaupt die Welt bewegt, das ist der Widerspruch.“ Im Klartext: Sie sagen: S21 finanziert sich selbst. Wir widersprechen und belegen: S21 ist finanziell ein Fass ohne Boden. Sie sagen: S21 bringt mehr Kapazität. Wir widersprechen und belegen: Kapazitätsabbau. Sie sagen: S21 ist modern und sicher. Wir widersprechen und belegen: brandgefährlich; lebensgefährdend; häusle- und stadtbedrohend. Sie sagen: S21 verkürzt die Fahrtzeiten. Wir widersprechen und belegen: S21 bringt Nullkommanull Fahrtzeitverkürzung. Und Wendlingen – Ulm bringt nicht mal die Hälfte an kürzerer Fahrtzeit, als das, was die Bahn durch Fahren auf Verschleiß zuvor an Verlangsamung produzierte. Sie sagen: Von S21 profitiert die Region. Wir widersprechen und belegen: Orte, Städte, die Region werden mit S21 abgehängt. Sie sagen: S21 ist schmerzlos. Alle Menschen, die hier in Stuttgart leben, dürften wütend widersprechen: S21 produziert Dreck, Gestank, Lärm und Stress. Und dies für eine gesamte Generation. Sie sagen: Stuttgart 21 ist grün und urban. Unser Widerspruch lautet: S21 ist ein unmenschlich. Stadtzerstörerisch. Ein Kaputtmach-Projekt.

Es gilt schlicht und einfach Hegels Diktum: „Alle Dinge“ – die die S21-Befürworter vorgaben –„sind an sich selbst widersprechend.“

Und nochmals eine Schippe Hegel-Exegese oben drauf. Georg Wilhelm Friedrich Hegel war der Mann, der das Gesetz vom Umschlag der Quantität in eine neue Qualität entwickelte (oder auch dabei Aristoteles Einsichten aufgriff). Die hier aufgeführten sieben Stuttgart-21-Irrtümer sind nicht bloß sieben einzelne, zu addierende Fehler. Da kippt irgendwann Quantität in eine andere Qualität um.

Hegel verwendet dafür in seiner „Wissenschaft der Logik“ das Beispiel der ausgerauften Haare. Ein ausgezupftes Haar oder auch zwei Haare weniger – das macht nur einen quantitativ geringen Unterschied. Doch irgendwann ergibt die Summe ausgeraufter Haare die neue Qualität: Kahlkopf. Glatze! Just so verhält es sich bei Stuttgart 21: Von den Argumenten pro S21 ist schlicht nichts mehr da. Kahl und leergefegt. Zum Haare raufen für Pofalla, Leger & Lutz. Weswegen ja auch am 31. Dezember 2016 Volker Kefer von Bord ging, weswegen ja auch am 30. Januar 2016 Rüdiger Grube den Konzern verließ, weswegen ja auch am 31. März 2018 Utz-Hellmuth Felcht den Posten des Oberaufsehers aufgibt.

Das, was vom großen Sohn dieser Stadt da oben steht, erhält damit eine neue Bedeutung: „dass die Furcht zu irren der Irrtum selbst ist.“ Damit wird die aktuelle Situation des Großprojektes Stuttgart 21 auf präzise Weise beschrieben. Weswegen die Deutsche Bahn wohl inzwischen mit dem Philosophen höchst sträflich umgeht und seit Jahr und Tag nicht mehr in der Lage ist, die Neonröhren, die seine Vornamen GEORG WILHELM FRIEDRICH ausleuchten sollten, mit Strom und Leuchtkraft zu versorgen. Den Oberen der Bahn gehen Hegels Gesetze von Logik und Philosophie ebenso am Arsch vorbei wie die Gesetzmäßigkeiten von Eisenbahnbetrieb und Fahrplanlogik.

Die Betreiber von Stuttgart 21 haben keine stichhaltigen, an der Sache orientierten Argumente mehr für das Weiterbetreiben des Projekts. Sie wurschteln weiter – vor allem aus einem einzigen Motiv: der Staatsräson. Oder auch: Der Befürchtung, im Fall eines Eingeständnisses des großen Irrtums sich der Lächerlichkeit preiszugeben. Dabei gilt eben dieses, was im Neonlicht vom Bonatzbau strahlt: „… dass diese Furcht zu irren schon der Irrtum selbst ist.“

Wir fordern dazu auf, den großen Irrtum einzugestehen. Wir verlangen von Frau Merkel, der Vertreterin des Eigentümers der Deutschen Bahn AG, keine Furcht vor Irrtum zu zeigen. Wir fordern die Grün-geführte Landesregierung auf, zu den grünen Wahrheiten von vor 2011 zurückzukehren und endlich die Machtgeilheit hintanzustellen. Wir postulieren: Die Stadt muss der Bevölkerung zurückgegeben werden. Umstieg 21 ist zu realisieren. Der Bahnhof muss als modernisierter Kopfbahnhof erhalten und neu aufgebaut werden.

Gerne mit dem Sinnspruch des großen Sohnes dieser Stadt. Das Nach-unten-Gehen war ein großer Irrtum. Die Furcht, den Irrtum einzugestehen, ist schon der Irrtum selbst.

Deshalb gilt – mit und ohne Hegel, vor allem aber mit Köpfchen und mit gesundem Menschenverstand:

OBEN bleiben.

Winfried Wolf veröffentlichte 1995 das erste Buch zu Stuttgart 21. Er war 2010-2012 Mitherausgeber von drei Büchern zu Stuttgart 21. Von ihm erscheint am 15. Januar 2018, anlässlich der vierhundertsten Montagsdemonstration gegen Stuttgart 21, die deutlich erweiterte, und aktualisierte Neuauflage des Buchs „abgrundtief + bodenlos. Stuttgart 21, sein absehbares Scheitern und die Kultur des Widerstands“. Im Buch finden sich neue Beiträge von Monika Lege, Walter Sittler, Hans Heydemann, Christine Prayon, Angelika Linckh, Annette Ohme-Reinicke, Wolfgang Schorlau, Klaus Gebhard, Sabine Leidig, Ebbe Kögel und dem Mahnwache-Team. PapyRossa-Verlag, 376 Seiten, Hardcover, 20 Euro. Siehe auch: W. Wolf am „Roten Tisch“ zu Stuttgart 21: https://www.youtube.com/watch?v=-3NoW8E3cTQ