Vision 2030: Was aus unserer Sicht wirklich wichtig ist!

Endlich! Seit Jahren fordern wir, dass der Gemeinderat sich endlich mal Zeit nimmt um die Grundsatzfrage: „Wohin entwickelt – oder besser – wohin soll sich unsere schöne Stadt entwickeln“, zu diskutieren. Nun traf sich der Gemeinderat Anfang Mai also zu einer Visions-Klausur. Schaut man sich das Protokoll dieser zwei halben Sitzungstage an, könnte der Eindruck entstehen, bis zum Jahr 2030 wird alles gut. Stuttgart wird zur „Wohlfühlstadt“, zur „Sozialen Stadt“, zum „Schaufenster für Mobilität“, zur „Wirtschafts- und Innovationsstadt“, zur „Ökologischen Stadt“, zur „Stadt des Geistes und der Kultur“ und zur „Weltoffenen Stadt“!

Zugegeben, all das sind spannende Begriffe und hehre Ziele und mal ehrlich, wer kann etwas gegen Aussagen haben wie „Gutes gilt es zu schützen und zu bewahren“. Und genau da liegt auch der Hund dieser zwei halben Tage begraben.

Hinter abstrakten Formulierungen versteht jede_r was er/sie will. Moderationstechnisch mag das ja ganz pfiffig sein. Aber die tatsächlich existierenden Konflikte unserer heutigen Entwicklung lassen sich damit nicht nur nicht lösen. Der geschützte Raum einer Klausur wurde nicht einmal genutzt, um diese anzureißen. Dass diese Chance verpasst wurde lag sicherlich auch daran, dass das Design und die Moderation dieser Klausur geradezu zu einem beliebigen Wünsch – dir – was einluden.

Gleich zu Beginn der Klausur wäre eine präzise Zustandsbeschreibung der heutigen Situation in Stuttgart erforderlich gewesen. Statt zwar durchaus interessanten, aber leider nur allgemeinen Inputs über mögliche Zukunftstrends, braucht es den nüchternen Blick auf Probleme Stuttgarts.

So blieb z.B. die bittere Tatsache, dass Stuttgarts Wohlstand auf einer Mensch und Natur zerstörenden und ausbeutenden Produktionsweise beruht, unberücksichtigt. Daimler, Porsche und Bosch, ihre Produkte verpesten die Luft, tragen zur Klimakastatrophe mit CO2– Schleudern bei, verprassen Rohstoffe und heizen den gewaltsamen Kampf um sie mit  an, wie z.B. das um das Öl im Nahen Osten. Genauso wenig wurde diskutiert, dass unser Wohlstand und Konsum längst die Grenzen der Belastbarkeit der Natur auch in unserer Region überschreiten. Statt auf ein ‚Weiter so‘ durch neue Technologien wie Elektromobilität zu setzen, wäre es visionär gewesen, wenn wir diskutiert hätten, wie wir nicht mehr auf Kosten Anderer und auf Kosten der Natur durch Ausbeutung von Rohstoffen und Menschen leben wollen. Wie müsste eine nachhaltige Wirtschafts- und Kommunalpolitik aussehen, die die bestehende „Monokultur“ unserer exportabhängigen Automobilindustrie in eine diversifizierte, ökologisch und soziale Wirtschaftslandschaft überführen könnte. Wie erreichen wir mehr Artenvielfalt in der Natur und in der Ökonomie? Wie schaffen wir es, dass soziale und ökologische Folgen der Produktion in den Produktpreisen enthalten sind und nicht auf die Gesamtheit der Gesellschaft oder gar auf andere Kontinente abgeschoben werden? Wie können wir den Flächen- und Energieverbrauch drosseln und wie gestalten wir Wirtschafts­kreisläufe,  die regional sind und nach dem cradle to cradle-Prinzip funktionieren? Wie können wir unsere Bau- und Verkehrsprozesse organisieren, dass sie dem Ziel der CO2-Neutralität nahe kommen? Wie können Schritte hin zu einer Postwachstumsgesellschaft ermöglicht werden?

Schon an diesen hier nur exemplarisch genannten Fragestellungen wird klar, dass Antworten nur möglich sind, wenn auch entsprechende Konflikte ausgetragen werden. Soll das Motto „Freie Fahrt für freie Bürger“ weiterhin Vorfahrt vor einem wirksamen Gesundheitsschutz durch Fahrverbote für Verbrennungsmotoren erhalten? Lassen wir weiter zu, dass klimawirksame Flächen wie das zukünftige Rosensteinviertel tatsächlich bebaut werden? Wollen wir tatsächlich neue Straßen bauen oder endlich unsere städtische Infrastruktur von Schulen bis Schwimmbädern modernisieren? Wollen wir die Produktion von Wohnungen weiter dem Markt überlassen oder sehen wir Wohnen als Menschenrecht und damit als eine kommunale Aufgabe der Daseinsvorsorge?

Hier gäbe es noch viel zu diskutieren und noch viel mehr zu klären, statt dessen beschränkte sich die Klausur darauf, dass es mit unserer Wirtschaftsstruktur im wesentlichen so weiterlaufen soll wie bisher, nur mit ein bisschen weniger Verbrennungsmotoren, vielleicht etwas mehr Elektroautos, die dann unsere Straßen verstopfen, den öffentlichen Raum verschandeln und mit ausgedienten Batterien unsere Umwelt zerstören. Das ist keine Zukunftsvision! Mir scheint es, dass die meisten KollegInnen im Gemeinderat von der Wachstums­ideologie infiziert sind, und die Folgen mit dem scheinbaren Erhalt von Arbeitsplätzen hingenommen werden.

Die grundsätzlichen Funktionsprinzipien und gegenseitigen Abhängigkeiten der Themenfelder in einer Stadt wurden leider nicht diskutiert. Jede_r konnte seine/ihre Wünsche äußern und nett aneinander vorbeireden.

Was bleibt? Es hat Spaß gemacht, bei leckerem Essen auch mal außerhalb der politischen Arena interessante Gespräche mit Kolleg_innen anderer Fraktionen zu führen, inhaltlich sind wir aber einer Vision Stuttgart 2030 nicht wirklich näher gekommen. So lässt sich diese Klausur wohl am besten mit dem alten Slogan: „Alles wird gut, nichts wird besser“ zusammenfassen.

Doch statt angesichts dieses politischen Versagens den Kopf in den Sand zu stecken, sollte sich die kritische Stuttgarter Stadtgesellschaft die Frage stellen: „Wie wollen wir in Stuttgart in Zukunft leben?“. Überlassen wir es nicht weiter allein dem Gemeinderat, sondern machen wir uns mutig und visionär gemeinsam auf den Weg, unsere Zukunft selbst in die Hand zunehmen.