KPMG-Gutachten: Stuttgart 21 ein Fass ohne Boden

von Dr. Winfried Wolf

Wer beim Gutachten von KPMG & Basler zwischen den Zeilen liest und insbesondere den Innenteil studiert, kommt zum Ergebnis: Stuttgart 21 ist nicht nur ein Fass ohne Boden. Vor allem die Tunnelbauten sind mit nicht zu verantwortenden Risiken verbunden.

Wenn der Aufsichtsrat der Deutschen Bahn AG am 14. Dezember ein weiteres Mal über Stuttgart 21 diskutiert, dann liegt diesem ein 167 Seiten starkes Dokument mit der Überschrift „Überprüfung des Berichtes zur aktuellen Termin- und Kostensituation Projekt Stuttgart 21“ vor. Als Verfasser sind ausgewiesen „KPMG AG Wirtschaftsprüfungsgesellschaft“ und „Ernst Basler + Partner AG“. Auf den  ersten zehn Seiten kann man den Eindruck gewinnen, dass man für beschränkt gehalten wird. Wird dort doch in einem vierseitigen „Abkürzungsverzeichnis“ erklärt, dass „ca.“ „zirka“ meint, dass man „etc.“ als „et cetera“ lesen möge, dass „inkl.“ sich als „inklusive“ übersetzt und dass „S.“ tatsächlich auch als „Seite“ gelesen werden kann. Wer allerdings versucht, sich im Text selbst zurecht zu finden, könnte diesen bald entmutigt weglegen. Beispielsweise bei einem Satz wie dem folgenden: „In einer alternativen Risikobetrachtung wurde die deterministische Angabe der CaC (Cost-at-Completion) für Stuttgart 21 einer stochastisch vorgenommen Risikoermittlung gegenübergestellt mit dem Ziel, den deterministisch ermittelten Wert der Risiken und die Gesamtkostenprognose besser einordnen zu können.“

Wer bei Wikipedia sucht, erfährt, dass „Stochastik“ etwas zu tun hat mit der „Kunst des Vermutens“ und dass damit „als Oberbegriff die Gebiete Wahrscheinlichkeitstheorie und Statistik zusammengefasst“ werden. Basiert das Gutachten also auf Vermutungen und Annahmen über Wahrscheinlichkeiten?

Das ist, wie wir sehen werden, für weite Strecken des Gutachtens  eine durchaus zutreffende Charakterisierung. Doch das offen so zu sagen, können sich die beiden Auftragnehmer nicht leisten. Entsprechend steht in der Zusammenfassung etwas ganz anderes.

Die Kosten und der Inbetriebnahme-Termin sind nur scheinbar im Plan

Auf Seite 13 erfährt man, dass die  „Gesamtkosten“ für Stuttgart 21 bei „rund € 6,3 bis € 6,7 Mrd.“ liegen. Dort steht auch, dass KPMG und Basler von einer Inbetriebnahme „zwischen Dezember 2022 und Dezember 2024“ ausgehen. Und da manche Menschen, bei derart komplexen Texten gerne im Schnelldurchgang zur Sicherheit sich noch das Ende der Studie anschauen, steht da doch tatsächlich auf den letzten Seiten vor dem umfänglichen Anhang, auf Seiten  131, nochmals die Gesamtkostenzahl  „6,3 bis 6,7 Milliarden Euro“ und auf Seite 138 die erwähnte Zeitspanne „Dezember 2022 bis Dezember 2024“ für die Aufnahme des fahrplanmäßigen Betriebs im Tiefbahnhof.

Exakt darum ging es dem Auftraggeber, der Deutschen Bahn AG: KPMG & Basler sollten unterstreichen, dass die Kostenobergrenze des Projektes Stuttgart 21 bei 6,5 Milliarden Euro liegt. Und sie sollten als Termin für die Inbetriebnahme möglichst Dezember 2021 oder dann zumindest Ende 2022 nennen. Prompt berichteten alle maßgeblichen Medien Anfang Oktober: „Das [KPMG-] Papier bestätigt im Großen und Ganzen die Kalkulation der Bahn“ (hier nach: Südwestpresse vom 8. Oktober 2016)

Wobei bereits für die – bei KPMG als unvermeidlich dargestellte – Verzögerung des Eröffnungstermins um mindestens ein Jahr Kosten in Höhe von einigen hundert Millionen Euro zu veranschlagen wären. Da KPMG & Basler auch eine Verzögerung der Inbetriebnahme von drei Jahren für denkbar halten, wäre als Risiko ein zusätzlicher Betrag von rund 1 Milliarde Euro in Ansatz zu bringen. Doch Vergleichbares unterbleibt hier. Wie später noch anderswo. Doch der Reihe nach.

Welche Auskünfte von welchen Personen? Oder: Warum wurde Bahnvorstand Kefer nicht befragt?

Im Gutachten gibt es eine Liste von 30 Personen, die „im Rahmen unserer Tätigkeit uns (als) Auskunftspersonen zur Verfügung“ standen (S. 148ff). Es handelt sich ausschließlich um Menschen, die in Lohn und Brot bei der Bahn bzw. der Bahntochter „DB Projekt Stuttgart-Ulm GmbH“ stehen oder standen.

Wobei man bereits hier stutzt. Da finden wir unter „K“ zwar „Kayser, Christian“ und dann „Klein, Harald“, doch dazwischen fehlt einer. Volker Kefer wird nicht genannt. Ausgerechnet derjenige, der in der Bahnspitze seit 2010 und zumindest bis Mitte Juni 2016 als „Vorstand für Infrastruktur und Technik“ für Stuttgart 21 verantwortlich war, ist in der Liste nicht zu finden. Stand Kefer „als Auskunftsperson“ „nicht zur Verfügung“?

Nun gab es Mitte Juni Kefers „überraschenden Rückzug“ (FAZ) als Bahnvorstand. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung schrieb am 16. Juni 2016 durchaus zutreffend, der Abgang Kefers sei „gravierend für Stuttgart 21“.

Tatsächlich aber wurde die KPMG-Studie „in der Zeit vom 13. Mai bis zum 27. September 2016 durchgeführt” (S.39). Kefers Abgang erfolgte Mitte Juni. Wenn das Gutachten elementaren  wissenschaftlichen Ansprüchen genügen soll, dann muss es Treffen des KPMG-Basler-Teams mit Kefer gegeben haben. Oder es müsste der Versuch eines solchen Gesprächs mit demjenigen, der als einziger seit 2010 auf der Top-Ebene für S21 verantwortlich war, gegeben haben und dokumentiert werden, warum Kefer gegebenenfalls als Auskunftsperson „nicht zu Verfügung stand“.

Darüber hinaus stellt sich die Frage: Warum haben KPMG & Basler keinen Unabhängigen in ihre Interviews und Nachfragen mit einbezogen? Warum wurde z.B. niemand aus dem Büro der Vieregg-Rössler GmbH, dessen Mitarbeiter sich in mehreren Gutachten mit den Kosten und dem Zeitplan von S21 befasst hatten, hinzugezogen? Warum, vor allem, wurde niemand vom Bundesrechnungshof (BRH) angehört, eine Institution, die sich seit zwei Jahren intensiv mit Stuttgart 21 befasst?  Das Büro Vieregg-Rössler kam bereits Anfang 2016 auf S21-Gesamtkosten von 9,8 Milliarden Euro und auf einen Fertigstellungtermin 2023 oder 2024. Der BRH legte im Oktober 2016 seinen Bericht dem Bundestag vor – mit vergleichbaren Ergebnissen wie Vieregg-Rössler. Wobei die Deutsche Bahn, wie im BRH-Bericht selbst dokumentiert, seit mehr als einem Jahr die jeweils aktuellen Fassungen des BRH-Berichtes zur Verfügung hatte und das Team um KPMG davon hätte in Kenntnis setzen müssen. Doch nichts dergleichen erfolgte.

Die Gutachter  durften die meisten wichtigen Dokumente nicht einsehen. Dennoch gelangen sie auch auf der gegebenen dünnen Basis zur Auffassung, dass die Kosten nicht kontrollierbar sind

So eindeutig im KPMG-Dokument in der Zusammenfassung und am Ende der Studie die Angaben zu den Gesamtkosten und zum Zeitpunkt der Fertigerstellung von Stuttgart 21 sind, so verblüfft ist man, wenn man den Text insgesamt studiert und wenn man ab und an zwischen den Zeilen liest. Hier entdeckt man Einsichten und Wahrheiten, die im „Executive Summary“ nicht zu finden sind. Ja, Aussagen, die den zitierten Zentralaussagen widersprechen.

Dutzendfach wird im Innenteil eingestreut, was die Gutachter alles nicht zur Verfügung hatten, wo sie nicht Einsicht nehmen konnten: So konnten sie keinen „Finanzierungsvertrag“ einsehen (S.28). Sie durften nicht Einsicht nehmen in das „Claim-Management“ (S.14, 28). Hinsichtlich einer „Zusammenstellung der Gegensteuerungsmaßnahmen“ der Bahn (um doch noch näher an den ursprünglichen Termin der Fertigerstellung zu gelangen) heißt es, diese „liegt uns nicht vor“; sie befinde sich laut Bahn „noch im Ideen-Stadium“ (S. 58), weshalb man hier auch „keine abschließende Würdigung vornehmen“ könne.

Alle Daten lagen dem Team KPMG-Basler „ausschließlich in digitaler Form vor“ (S.32); eine Einsicht in Originaldokumente „haben wir auftragsgemäß nicht vorgenommen“ (S. 32). „Auf die Einholung einer Vollständigkeitserklärung haben wir verzichtet“ (S. 38). Was heißt: Man wollte es offensichtlich gar nicht so genau wissen. Und dann steht dort ein Satz, mit dem sich die Gutachter eine Art Generalabsolution erteilen: KPMG & Basler könnten „nicht ausschließen, dass wir bei Kenntnis weiterer Informationen und Dokumente zu einem anderen Ergebnis gekommen wären.“ [Hervorgehoben von uns].

Das liest sich durchaus auch wie ein Auf-Distanz-Gehen zum-Auftraggeber. Doch es wird noch deutlicher, wenn es im Gutachten heißt: „Demzufolge erteilen wir kein Testat und geben keine andere Form der Bescheinigung oder Zusicherung.“ (S.32; erneut Hervorhebung von uns).

Auf derselben Seite liest man den bemerkenswerten Satz: „Die Aufdeckung oder Prüfung möglicher unerlaubter Handlungen sowie eine […] rechtliche Beurteilung der geprüften Aspekte war nicht Gegenstand unseres Auftrags.“ Unwillkürlich fragt man sich: Stieß das KPMG-Basler-Team auf „unerlaubte Handlungen“ auf geprüfte Aspekte, die eine „rechtliche Beurteilung“ nahegelegt hätten?

Eingestreut in den Gesamttext gibt es Feststellungen, die den zentralen und bereits zitierten Aussagen zu den Kosten und zur Terminlage diametral widersprechen. So heißt es einigermaßen überraschend auf Seite 131: „Insgesamt kann nicht ausgeschlossen werden, dass der Finanzierungsrahmen aufgrund der beschriebenen Effekte nicht ausreichend  ist.“ Was an dieser Stelle damit begründet wird, dass „in Anbetracht des noch langen Zeitraumes bis zur Fertigstellung in der durchgeführten Risikobetrachtung der aktuelle Finanzierungsrahmen nur noch mit einer Wahrscheinlichkeit von 55 % unterschritten wird.“

An einer Stelle werden Mehrkosten in Höhe von 35 Millionen Euro als “nachvollziehbar” bezeichnet. Das bezieht sich auf den Fernbahnhof, der sich allerdings auch laut KPMG-Basler “noch im Entwurfsstadium befindet” (S.63). Eigentlich ist es jedoch nicht verständlich, wie die Kosten eines nicht durchgeplantes Teilprojekts, „nachvollziehbar“ sein können.

KMPG-Basler weisen dann darauf hin, dass es ein “gesondertes Budget für Risiken aus dem Filderdialog sowie aus dem Schlichtungsverfahren” gibt und dass die entsprechenden “Zusatzkosten nicht im GWU[Gesamtwertumfang]” beinhaltet sind. (S.21) Das aber heißt, dass es versteckte Kosten in größeren Dimensionen gibt.

Zu den seitens der DB AG behaupteten Möglichkeiten, die bisher identifizierten Kosten wieder zu minimieren, heißt es an mehreren Stellen, die entsprechenden „Chancen zur Kostenreduktion” seien “bis Q1/2016 nicht realisiert” worden (u.a. S.20). Und an anderer Stelle stellen die Gutachter hinsichtlich der “Chancen und Risiken” fest: “… eine abschließende Würdigung ist uns (…) nicht möglich gewesen.” (S. 116).

Aus diesen zwei letzten Zitaten geht hervor, dass die Risiken deutlich höher als angegeben sind und dass dies nicht in den Gesamtkosten berücksichtigt wurde.

Beim Thema Inbetriebnahme-Termin („IBN“) heißt es dann: „Insofern sehen wir als frühestmöglichen IBN-Termin S21 den Fahrplanwechsel im Dezember 2022“ – aber nur „unter der Voraussetzung, dass die Gegensteuerungsmaßnahmen […] greifen […] dass die zusätzlichen von uns (!) identifizierten Risiken nicht eintreten und dass keine zusätzlichen Verzögerungen […] eintreten…“ Oder auch:  „Von KPMG/EBP wurden zusätzliche Terminrisiken aufgezeigt, welche […] zu weiteren Verzögerungen führen könnten.“ (S. 138)

Im Klartext heißt dies: Verzögerungen treten nicht ein, wenn sie nicht eintreten, wobei absehbar eintretende Verzögerungen von KPMG-Basler durchaus „identifiziert“ wurden.

Was fehlt

Ein ganzes Bündel von Themen, die für das Projekt S21 wichtig sind, tauchen im Dokument des KPMG-Teams erst gar nicht auf: Kein Wort ist zu lesen über den – bis heute nicht überzeugend entwickelten und vor allem nicht genehmigten – Brandschutz im Tiefbahnhof.

Kein Wort ist zu finden zum Thema Kapazitätsabbau. Hier geht das BRH-Gutachten davon aus, dass nach Inbetriebnahme eines allzu leistungsschwachen Tiefbahnhofs der Bund verantwortlich dafür sein könnte, nachträglich in Maßnahmen zur Kapazitätserweiterungen investieren zu müssen. Was Mehrkosten im Bereich von einer Milliarde Euro und mehr bedeuten kann.

Mit keinem Wort begeben sich KPMG-Basler auf die im Wortsinne schiefe Ebene der Gleisneigung im Tiefbahnhof. Diese liegt beim Sechsfachen des „eigentlich“ Gestatteten.

Es kann nicht in Zweifel gezogen werden, dass jedes einzelne dieser Problemfelder dazu führen kann, dass der Termin der Inbetriebnahme nochmals erheblich hinausgezögert wird. Der Bundesrechnungshof geht in seinem Prüfbericht noch weiter. Dort wird festgehalten: Es sei u.a. vor dem Hintergrund der Gleisneigung nicht gewährleistet, dass der Tiefbahnhof am Ende „eine „Betriebsgenehmigung […] erhalten“ würde. Die Fachleute und Verantwortlichen des Bundesrechnungshofs, der nach Grundgesetz verantwortlichen Prüfinstanz für Projekte, die mit Steuergeldern finanziert werden, werden diese Formulierung mit Sorgfalt gewählt haben. Sie stellen fest, dass ein Großprojekt, das mindestens 6,5 Milliarden Euro teuer ist, möglicherweise am Ende nicht in Betrieb geht.

Doch zu all diesen Themen schweigen die Gutachter von KPMG-Basler.

Offene Kostenpositionen

Eine größere Zahl von Kostenpositionen wird eher peripher behandelt.

So ist an einer Stelle im KPMG-Basler-Dokument die Rede davon, man könne die entstandenen Verzögerungen durch „die Einführung einer zweiten Schicht“ reduzieren – mit „Arbeiten von 4 bis 14 und von 14 bis 24 Uhr“. Da habe der „Auftragnehmer Züblin“ erklärt, es fielen dafür „keine zusätzlichen Kosten“ an. Eine solche erhebliche Neuorganisation ist selbstverständlich mit erheblichen Zusatzkosten verbunden.

An anderer Stelle geht es um zusätzliche Kosten für Lärmschutz. Da argumentiert die Bahn, es handle sich um „externe Kosten“ – um Kosten, die nicht absehbar gewesen wären. Von den verschärften Lärmschutzbestimmungen habe man erst im April 2013 erfahren, zu einem Zeitpunkt, als das S21-Rechenwerk bereits fertig erstellt war.

Da allerdings (S. 103f) kritisieren KPMG-Basler diese Behauptung: Es war die Deutsche Bahn AG selbst, die sich seit dem Jahr 2010 an den Debatten u.a. im Verkehrsausschuss des Bundestags zum Wegfall des sog. Schienenbonus (geringere Lärmschutzauflagen für Schienenverkehr im Vergleich zu den anderen Verkehrsträgern) engagiert beteiligt hatte. Der entsprechende Gesetzentwurf wurde am 25. September 2012 eingereicht.

Generell gilt: Die Deutsche Bahn AG bzw. die Projektgesellschaft verwenden im Fall der Kosten für die Tunnelbauten außerordentlich niedrige Ansätze. Dazu gibt es bei KPMG und Basler die „Empfehlung“, solche Kosten doch „unter Einbezug geeigneter Benchmarks nachvollziehbar“ zu gestalten (S.79). Das Dokument nennt dann an anderer Stelle (S.121) solche seitens KPMG-Basler identifizierte Benchmarks. Doch diese liegen entweder in der Schweiz („Adlertunnel“) oder es handelt sich um einen Straßentunnel („Chienbergtunnel“).

An mehreren Textstellen  erklären die Gutachter, die seitens der DB AG genannten „Laufmeterkosten“ seien „nachvollziehbar“ (S.43).  Vergleicht man hingegen, wie Vieregg-Rössler das tun, die Kosten, die die Deutsche Bahn AG für die Tunnelbauten von S21 zugrundegelegt, mit denen, die sie bei der „Zweiten S-Bahn-Stammstrecke  München“ in Rechnung stellt, dann kommt man ins Grübeln. Das Vieregg-Rössler-Team  hat diesen Vergleich jüngst (im Rahmen einer Präsentation im Stuttgarter Rathaus für die Fraktion SÖS-LINKE am 28. November 2016) dokumentiert: Danach liegen die Tunnelkosten beim Münchner Projekt pro Kubikmeter „Ausbruchsvolumen“ bei 1850 bis 2250 Euro. Bei S21 sollen es jedoch – erneut laut Deutsche Bahn AG – nur 750 bis 825 Euro sein. Vieregg-Rössler plädiert dafür, bei S21 mindestens  1275 Euro (je Kubikmeter Ausbruchsvolumen) anzunehmen. Das Münchner Beratungsbüro verweist dabei darauf, dass es zwischen den beiden Projekten in München und Stuttgart viele Gemeinsamkeiten gibt und dass die Unterschiede (in München eine schwierigere Grundwassersituation) sich teilweise ausgleichen (in Stuttgart Anhydrit, den es in München nicht gibt).

KPMG & Basler schreiben unverhüllt: Tunnelbau in Anhydrit (Gipskeuper) ist nicht beherrschbar  

Im Fall des in Stuttgart extrem schwierigen Untergrunds mit Anhydrit, auch „Gipskeuper“ genannt, ist das Dokument von KPMG und Basler eine echte Fundgrube. Rund zehn Seiten des rund 100 Seiten starken eigentlichen Gutachtens (ohne Zusammenfassung, ohne Anhang, ohne Abkürzungsverzeichnis usw.) widmen sich dem Aspekt Anhydrit.

Ausdrücklich schreiben KPMG & Basler, dass das Risiko, das mit dem Untergrund verbunden sei, seitens der DB AG  deutlich „unterbewertet“ worden sei (S.46). Obgleich es eigentlich ein Muss sei, dass es bei den Tunnelbauarbeiten im Anhydrit-Bereich „keinen Wasserzutritt“ gibt, habe man „bei einer Begehung am 17. August 2016“ eben dies festgestellt: „Wasserzutritte“ (S. 46).

Im Dokument wird festgestellt: „Die Erfahrung zeigt, dass ´Tunnelbau ohne Wasser´ nicht möglich ist“. Insofern halte man es „nicht für realistisch, dass das Quellen des Anhydrit mit absoluter Sicherheit  vollständig vermieden werden kann“. (S. 46)

„Anhebungen von mehr als 10 Zentimetern“ werden als denkbar bezeichnet, wobei  in solchen Fällen der entsprechende Tunnel schlicht „neu gebaut“ werden müsse. Ein entsprechendes „Ereignis“ könne „vom Zeitpunkt des Ausbruchs“ (= der erste Tunnelbohrungen) „bis hin zur kommerziellen Inbetriebnahme eintreten“.

An dieser Stelle fügt das KPMG-Team hinzu: „Spätere Zeitpunkte werden nicht betrachtet.“ (S. 49) Was also nach einer Inbetriebnahme der S21-Bauten alles in den S21-Tunnelbauten passieren kann, liegt jenseits des Betrachtungshorizonts der KPMG & Basler-Gutachter. Das ist eine erstaunliche Feststellung. Wo an anderer Stelle dieselben Gutachter  zu Recht darauf verweisen, dass Eisenbahnbauten eine Bestandsgarantie von bis zu 100 Jahren aufzuweisen haben.

Wobei die Gutachter sich hier durchaus widersprüchlich äußern. So halten sie auf Seite  52f fest: Es gebe „keine bautechnische Lösung, welche eine risikofreie Nutzung [der S21-Tunnelbauten; W.W.] über Jahrzehnte […] zuverlässig sicherstellen kann.“ Oder: „Der Bauherr muss sich bewusst sein, dass bei jedem Tunnel im Anhydrit inhärent ein im Ingenieurbau unüblich großes Risiko für die Bautauglichkeit besteht.“ Es könne sogar dazu kommen, dass sich „Tunnelröhren als Ganzes […] anheben“.

Insofern erachte man „die diesbezügliche Problemerfassung“ (also die Darstellungen des Auftraggebers und die damit verbundenen Kostenschätzungen) „als nicht ausreichend“. (S.17)

Wenn KPMG & Basler in diesem Zusammenhang hervorheben, es werde im Fall von Anydrit-Bewegungen in den Tunnelbauten dann auch an der Oberfläche zu  Erdbewegungen kommen, was  auch weitere „Gebäudesanierungen“ erforderlich machen würde, dann jedoch lapidar mitteilen, „auskunftsgemäß“ seitens der Deutschen Bahn AG sei dies durch „Versicherungen“ der Deutschen Bahn AG „abgedeckt“, bleiben Fragezeichen. Es bleibt zu bezweifeln, dass Schäden in einem Umfang, wie sie durch umfassende größere Anhebungen bei Gebäuden verursacht werden, seitens einer Versicherung pauschal abgedeckt werden können. Auch aus diesen Beschreibungen möglicher Entwicklungen sind bei korrekter Vorgehensweise Risiken abzubilden.

Gesamtbilanz

Die KPMG-Basler-Gutachter präsentierten hiermit einen Text, in dem sie einerseits den Anforderungen der Deutschen Bahn  AG Genüge zu tun und den Gesamtbetrag der Kosten fast exakt und den Zeitpunkt der möglichen Inbetriebnahme mit gewissen Abweichungen im Sinne des Auftraggebers zu bestätigen scheinen.

Gleichzeitig gibt es im Kernbereich des Gutachtens dutzendfach Aussagen, die ganz anderes besagen, die im Wortsinn und im übertragenen Sinn in Abgründe blicken lassen und die einen Abbruch des Projekts nahelegen.

Dies sollte auch vor dem Hintergrund der jüngsten Feststellungen der Bahnverantwortlichen gesehen werden. Bahnchef Grube sagte jüngst im Kreis von Bahnmanagern, Stuttgart 21 sei nicht „von der Bahn erfunden“ worden. Er, Grube, hätte es „auch nicht gemacht“.

Manfred Leger, der Geschäftsführer der Bahn-Projektgesellschaft Stuttgart – Ulm ließ jüngst im Stuttgarter Rathaus durchblicken: Es sei nicht die Bahn gewesen, „die sich diesen Luxusbahnhof ausgedacht“ habe.

Der Bundesrechnungshof wiederum wirft in seinem Bericht offen die Frage auf, „ob das Projekt Stuttgart 21 abgebrochen oder [ob] es weitergebaut werden sollte.“

 

Winfried Wolf ist Diplom-Politologe und Dr. phil. Er verfasste rund ein Dutzend Bücher zum Thema Verkehrspolitik und Eisenbahn, darunter Standardwerke wie „Eisenbahn und Autowahn“ (1985, 1986 und 1992) und „Verkehr. Umwelt. Klima – Die Globalisierung des Tempowahns“ (Wien 2007 und 2009). Er veröffentlichte 1996 das erste Buch zu Stuttgart 21 (ISP-Verlag Köln). Er ist Mitherausgeber von drei Büchern zu Stuttgart 21, die in den Jahren 2012, 2013 und 2014 erschienen (alle PapyRossa, Köln). im Februar 2017 erscheint von ihm das neue Buch „abgrundtief + bodenlos – Das absehbare Scheitern von Stuttgart 21“ (ebenfalls PapyRossa).