Experten erklären die Risiken durch den Tunnelbau von S21

Hannes Rockenbauch leitete den Abend ein mit der Bemerkung, dass es wieder einmal um das  unterirdischste Großprojekt Deutschlands gehe – Stuttgart 21, die Risiken rund um den  Tunnelbau. Er wies darauf hin, dass sich der Stuttgarter Gemeinderat seit Jahren nicht mehr mit S21 auseinandersetze. Zuletzt habe man sich mit den 209 Seiten der Klagebegründung der Bahn gegen Stadt und Land im Gemeinderat beschäftigt. Die S21-Bewegung müsse weiterhin nachdenklich, kritisch und offen bleiben.

Dr. Jakob Sierig, hat zu Anhydrit-Gestein promoviert, war beim Bundesverband für Geothermiebohrungen tätig. Der Titel seines Vortrags war: „Anhydrit-Risiken im Tunnelbau von Stuttgart 21“. Eingangs erklärte der Geologe, dass alle acht S21-Tunnel zumindest teilweise im Gipskeuper verlaufen. Der Tunnelbau im Gipskeuper habe ein sehr hohes Risiko – viele dieser acht Tunnels könnten zum permanenten Sanierungsfall werden. „Wenn einer dieser acht Tunnels ausfällt, funktioniert das gesamte System Stuttgart 21 nicht mehr. Egal in welche Richtung man rausfährt; man muss durch einen im Gipskeuper gebauten Tunnel herausfahren“, erläuterte der Geologe.

Grundlegendes zum Gipskeuper fasste Sierig folgendermaßen zusammen: „wenn er mit Rissen durchsetzt ist, kann er in Kontakt mit Wasser kommen und kann sein Volumen um bis zu 60  Prozent vergrößern (aufquellen) und bis zu 120 bar Druck aufbauen“. Sierig wies darauf hin, dass das „Zusammenspiel von Tonmineralen und Anhydrit ist noch nicht geklärt“ sei – zu eben dieser Verbindung könne es bei mindestens einem der acht Tunnels kommen.

Das Risiko beim Tunnelbau erläuterte der Geologe im Folgenden: „Wenn man Tunnel sprengt oder bohrt, entstehen Risse, durch die Wasser einsickern kann – und dann setzt der Quellprozess ein“. Deshalb sei die Maßgabe: trocken zu bohren. Das Problem dabei sei, dass dies „bislang in der Praxis noch nicht gemacht worden ist. Die Tunnelbauingenieure sagen: ‚so müsste es gehen‘, aber in der Praxis gibt es noch keinen Beleg dafür“. Zur Wahrscheinlichkeit von Wasserzutritt steht im KPMG/Basler Gutachten von 2016: Tunnelbau ohne Wasser ist nicht möglich. Die Wissenschaft stellt folgende Anforderungen: Prof. Kirschke sagte in einem im Jahr 2014 gehaltenen Vortrag: Die übliche Anforderungen seien: Sanierungsfrei für 100 Jahre.

Die Erfahrungen im Tunnelbau in Stuttgart zeigen: Der Engelbergtunnel ist ein Sanierungsfall – im kommenden Jahr (2018) steht erneut eine Sanierung an. Der Hasenbergtunnel und Wendelschleife sind bisher nicht gequollen. Die Gründe dafür lägen „eher in den geologischen Gegebenheiten denn durch Kompetenz“, wie Jakob Sierig süffisant anmerkt. Zudem wies er darauf hin, „dass der Quellprozess mehrere Jahrzehnte andauert, bis er wieder zum erliegen kommt. Dagegen kann man nichts  machen“. Die Erfahrungen mit Tunnelbau im Gipskeuper seien überschaubar: „Bisher wurden im Gipskeuper zehn Kilometer gebaut bisher. Bei S21 sind es allein 20 Kilometer Kipskeuper-Tunnel“.

Der 82-jährige Planer und Gutachter der Bahn, Prof. Walter Wittke. Seine Lösungsansätze schildert Jakob Sierig wie folgt:  Wittke möchte sogenannte Abdichtungsbauwerk um die Anhydritzone bauen, die bereits gequollenes Gestein  von noch nicht gequollenem Gestein trennt.  Professor Kirschke sagt, dass man das nicht zuverlässig abdichten könne. Sierig führt aus, dass durch Erschütterungen beim Tunnelbau auch so Wasser eindringen könne. Die Abdichtungsbauwerke seien in der Theorie gut, aber in der Praxis nicht. Zudem gebe es noch kein Abdichtungsbauwerk, welches in der Praxis gebaut worden sei. Beim Bau stellen sich wichtige Fragen: Wie werden die Übergänge zwischen gequollenem und quellfähigem Gestein erkannt? Professor Wittke arbeite mit numerischen Modellen, welche die Natur wiedergeben sollen. Es gebe aber kein konsistentes Stoffgesetz für das Anhydritschwellen. Wittke hat im Jahr 2016 den S21-Tunnel nach Bad Cannstatt nochmal überdacht. Man müsse den Tunnel nur trocken bauen, dann würde das klappen. Im KPMG-Gutachten steht aber, dass man Tunnelbau nicht ohne Wasser machen kann. Die von der Bahn beauftragten Gutachter schreiben von einem „unüblich großen Risiko für die Betriebstauglichkeit“ bei den S-21 Tunnels. Bei dem Tunnel nach Feuerbach haben die KPMG-Gutachter ein Quellrisiko von bis zu 13 Prozent errechnet.

Mit Blick auf den Wagenburgtunnel sagte Sierig, dass dieser in unmittelbarer Nähe der Baustelle für den S21-Fildertunnel liege. „Dort wissen wir, dass das Gestein extrem quillt“. Die dahinterliegende Problematik sei, wenn dicht unter der Erdoberfläche ein Tunnel gebaut wird, sei das Eintrittsrisiko für Wassereintritt und somit quellender Anhydrit sehr hoch. Zwei warnende Beispiele aus der Schweiz erläuterte der promovierte Geologe: der Adlertunnel und der Chienbergtunnel seien auf Grund des quellenden Untergrunds ein permanenter Sanierungsfall – man überlege derzeit, eine dritte Röhre zu bohren, um Zeit für die Sanierung zu haben. Der Freudensteintunnel sei so gebaut, dass Knautschzonen angelegt worden seien beim Bau, die im Moment noch zusammengedrückt würden. „Ob das reicht, weiß heute noch niemand“, so Sierig.

Auf die Rückfrage aus dem Publikum nach der Verarbeitung von Flüssigkleber um Wasser zu stoppen antwortete Sierig wie folgt:  Dort werde Epoxidharz eingespritzt. Die Frage sei, wie vollständig das abdichte. Zusätzlich sei unklar was passiere, wenn mit hohem Druck in das Gestein eingespritzt wird. „Entstehen dann wieder neue Klüfte?“  Eine weitere Frage aus dem Publikum zu der Eintrittswahrscheinlichkeit von oberirdischen Schäden, infolge von Quellungen durch den Tunnelbau konnte Sierig ebenfalls beantworten. „Auch bei Überdeckungen von 300 Meter kann es noch zu Hebungen kommen“. Diese seien in einem geringen Maße, allerdings bei einer Höhe von „50 bis 100 Meter bekommt man diese Hebungen mit“, was bedeutet, dass hier Schäden an Gebäuden entstehen können.

Der zweite Referent des Abends Prof. Dr. Uwe Dreiss studierte Elektrotechnik, anschließend Rechtswissenschaften. Sein Vortrag des Abends beschäftigte sich mit der Frage: Was kommt auf die Anwohner zu?  Er sei selbst Eigentümer eines Hauses, welches in unmittelbarer Nähe zu einer Tunnelbaustelle von S21 stehe. Der Jurist wies darauf hin, dass unter Umständen eine Gefahr für Leib und Leben infolge der Tunnelbohrungen bestehe.

Seine Perspektive sei nicht nur, was passieren könne, wenn es beim Tunnelbau zu Schäden komme: „Was passiert eigentlich, wenn sich lockerer Untergrund durch die Erschütterungen im Betrieb senkt“. Die Bahn habe irgendwann nicht mehr geantwortet auf die kritischen Fragen seiner Initiative Kernerviertel. Man müsse sich damit beschäftigen „was nach 20 Jahren ist und auch was nach 50 Jahren ist, wenn Dann Schäden an Gebäuden auftreten?“ Juristisch gesehen sei die Lage eindeutig: Der Kläger muss nachweisen, dass die entstandenen Schäden eine direkte Folge des Tunnelbaus sei. „Wenn in 50 Jahren Schäden an Gebäuden auftreten, muss der Kläger nachweisen, dass die Bahn beim Bau gepfuscht hat. Der Zusammenhang zwischen Tunnel und Schaden am Haus muss vom Kläger nachgewiesen werden“. Die Bahn sei nur haftbar wenn fahrlässig gehandelt wurde. Fahrlässig bedeute wer die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht lässt. Dreiss‘ Schlussfolgerung: „Das ist eine  Zumutung für den Kläger“, denn der „Hauseigentümer muss nachweisen, dass die verkehrsübliche Sorgfalt beim Bau beachtet wurde“. In einem solchen Fall stelle die Bahn Protokolle zur Verfügung, „das reicht aber bei weitem nicht“. Die Bahn werde die Protokolle nicht zu ihrem Nachteil verfassen, so der Jurist weiter. Seine Schlussfolgerung: „Haftungsansprüche werden nicht realisierbar sein“.

Der Dritte Referent des Abends war Eisenhart von Loeper: Der Jurist und Sprecher des Aktionsbündnisses gegen Stuttgart 21 hatte am 22. Februar Strafanzeige erstattet. Von Loeper wies darauf hin, dass die Milliardenverschwendung im Zuge des Baus von Stuttgart 21 fehle das Geld in den Kommunen für soziale und andere Aufgaben. Mit dem Weiterbau von S21 würden Vermögensinteressen der Steuerzahler verletzt. Strafbar sei dies nur dann, wenn es wissentlich und willentlich geschehe. Dies sei dann gegeben, wenn es kostensparende Alternativen gebe. Mit dem Umstiegskonzept gebe es eine solche Alternative. Spätestens mit der Vorlage  des Gutachtens des Bundesrechnungshofs vom Juni 2016 wisse die Bahn, dass sich die Baukosten auf bis zu 9,5 Milliarden Euro summieren könnten. Von Loeper bezifferte den Schaden zwischen 3 bis 6 Milliarden, wenn die Bahn S21 weiterbaue und nicht auf ein Umstiegskonzept umschwenke. „Allein das reicht aus, eine sichere Schädigung durch Aufsichtsrat und Vorstand der Bahn nachzuweisen. Der Vorstand hätte sich seit Mitte letzten Jahres auf den Umstieg einlassen müssen“. Eisenhart von Loeper hatte die Bahn aufgefordert, den Umstieg zu realisieren.

Im Folgenden referierte von Loeper über die vom Anhydrit ausgehende Gefahr in Verbindung mit der Fragestellung, ob dies rechtlich als Untreue zu bewerten sei. „Ein Gefährdungsschaden kann ein Vermögensnachteil sein“ sagte der Jurist mit Blick auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Eine Wertminderung des zu betreuenden Gesamtvermögens würde auftreten, wenn ein unüblich hohes Risiko beim Bau oder der Betriebssicherheit auftreten würde. Genau dies stand im Gutachten von KPMG und Basler aus dem Jahr 2016. Zusammenfassend sagte von Loeper: „Dann ist dies ein schwerwiegender Mangel – deshalb muss die Bahn umsteigen“, um fortzufahren: „Der Weiterbau von S21 im Anhydrit führt der Bahn bereits jetzt einen messbaren Vermögensnachteil im Sinne der Untreue zu“.

Ferner warf von Loeper Wittke vor, ein Großexperiment an der Baustelle S21 zu betreiben. Ein weiterer Aspekt seiner Strafanzeige basiere auf Artikel 87 e Abs. 4 des Grundgesetzes. Hier steht: „Der Bund gewährleistet, daß dem Wohl der Allgemeinheit, insbesondere den Verkehrsbedürfnissen, beim Ausbau und Erhalt des Schienennetzes der Eisenbahnen des Bundes sowie bei deren Verkehrsangeboten auf diesem Schienennetz, soweit diese nicht den Schienenpersonennahverkehr betreffen, Rechnung getragen wird.“ Mit Stuttgart 21 werde das Grundgesetz verletzt, das Projekt sei eine „unverzeihliche Fehlentscheidung, die Milliardenschäden erzeugt und zudem unwirtschaftlich ist“. Die sichere Verkehrsleistung im Vergleich zu heute würde sich massiv verschlechtern. Drei Gründe, das Projekt zu beenden seien: das Anhydrit-Risiko, die Halbierung der Gleise (was zu einer Kapazitätsminderung von mindestens minus 30 Prozent führe), sowie die sechsfach überhöhte Gleisneigung am geplanten Stuttgarter Hauptbahnhof. Dies sei eine massive Wertminderung und ein Funktionsmangel, und somit „fortgesetzte strafbare Untreue in vierfacher Dimension“. Von Loeper kündigte an, er werde dies dem Bahn-Aufsichtsrat unterbreiten, die Kanzlerin und Spitzen der Parteien würden ebenfalls unterrichtet. Der zuständige Justiz-Senator von Berlin, wo von Loepers Strafanzeige eingereicht wurde versicherte, er werde sich „tendenziell an die Unabhängigkeit der Justiz halten“, so von Loepers süffisante Schussworte.