Rede von Guntrun Müller-Enßlin auf der 360. Montagsdemo am 27. Februar 2017

Wer lieber den Text liest:

Liebe Freundinnen und Freunde, da stehe ich also mal wieder auf der Redebühne der Montagsdemos und habe die Ehre, zu Euch zu sprechen. Fast auf den Tag genau vor sieben Jahren habe ich das zum ersten Mal getan.

Ein Déjàvue und auch wieder nicht. Ich blicke zurück und vergleiche die Intention, die ich damals hatte, mit der von heute.

Damals: trat ich an, mit dem Wunsch und dem Glauben, etwas verändern, zusammen mit anderen ein schädliches Projekt stoppen zu können. Endlich mal politisch nicht reduziert zu werden auf mein Kreuzchen am Wahltag, sondern agieren, vielleicht etwas bewegen zu können. Vielen von Euch und Ihnen mag es ähnlich gegangen sein. Endlich war Politik mal etwas, das nicht „die da oben“ betrieben, sondern bei dem man mitmischen konnte. Der Tenor war: Mutig und zuversichtlich in einer Bewegung zum Wohl unserer Stadt mitzuwirken und etwas zu erreichen.

Heute, sieben Jahre später, sieht das alles etwas anders aus.

Nicht nur rein zahlenmäßig, was die Größe unserer Bewegung angeht. Die Grundstimmung – zumindest bei mir – ist skeptisch geworden. Wir haben gemerkt: Da sind Kräfte am Werk, gegen die wir nichts ausrichten konnten. Die Macht der Lüge hat unwahrscheinliches Potential. Die Pressesprecherin von Donald Trump hat mit dem Begriff “Alternative Fakten“ einen Begriff gefunden für das, was die Bahn seit Jahren macht. Das Räderwerk eines machtgeilen Konzerns und seine Lobbyisten im Bündnis mit der Politik und deren Werbestrategen – gegen diese Mischung scheint kein Kraut gewachsen zu sein; mit Sachargumenten und Inhalten scheint dieser Mischung nicht beizukommen zu sein.

Die Studie von Professor Grottian beweist, dass die genannten Kräfte im Bewusstsein der Bevölkerung ganze Arbeit geleistet haben, zum Beispiel, wenn trotz Kostenlüge und Kostenexplosion eine Mehrheit die Volksabstimmung nach wie vor für gültig hält.

Und jetzt wird gebaut.

Immer wieder werde ich gefragt – von Stuttgartern und von solchen, die außerhalb und zum Teil weit weg wohnen: Warum demonstrieren die immer noch, das Projekt ist doch im Bau, ist weit fortgeschritten, lässt sich doch nicht mehr stoppen?

Dann frage ich jedesmal zurück: Na und? Sollen wir deshalb den Mund halten? Uns zurückziehen und schweigen? Wieso sollten wir das tun?

Wird das Projekt dadurch legitimer, dass Fakten geschaffen werden? Wird es dadurch richtiger, dass es mit allen Mitteln, trotz ungelöster bautechnischer Probleme, mit Tricks und Mauscheleien, unter Verstößen gegen Recht und Ordnung, unter Missachtung von Lärmschutzregelungen und Feiertagsgesetz vorangetrieben wird? Wird das Projekt dadurch richtiger, dass die Bahn sich aufführt wie ein Kinderzimmertyrann und macht, was sie will?

Warum „die“ immer noch demonstrieren? Deshalb.

Die Relevanz einer Protestbewegung lässt sich nicht daran messen, ob sie erfolgreich ist. Sie lässt sich messen an ihren Inhalten, ihren Sachargumenten, an ihrem Vorhandensein, ihrer Unbeugsamkeit, an der Länge ihres Atems, daran lässt sie sich messen.

Unsere Proteststimme verstummen lassen, liebe Freundinnen und Freunde? Nicht in hundert kalten Wintern.

Und das ist gut so. Wir brauchen ein politisches Forum wie die Montagsdemo, die sich trotz des Versuchs, sie kleinzureden und zu ignorieren, nicht totkriegen lässt.

Wir brauchen dieses Forum Montagsdemo, in dem eine politische Opposition immer noch da ist, nicht weichgespült bis zur Unkenntlichkeit, sondern ungeschminkt, kraftvoll, weil sie niemandem verpflichtet ist als der Sache, der Wahrheit und den Argumenten.

Als diese Opposition ist sie ein wichtiger Gegenpart zum parlamentarischen Leben und dem Alltagskram, in dem dieses parlamentarische Leben sich aufreibt.

Als Stadträtin erlebe ich: Die Spielräume, innerhalb derer sich in unserem Stadtparlament etwas gestalten lässt, sind so begrenzt, so eng, so winzig, so klein, dass man manchmal verzweifeln könnte. Man verzettelt sich in Kleinigkeiten, in Spitzfindigkeiten und verliert das Grundsätzliche aus den Augen. Man schließt  Kompromisse, in denen so unterschiedliche Interessen miteinander verkungelt werden, dass die ursprünglichen Absichten schließlich überhaupt nicht mehr erkennbar sind, geschweige denn zum Tragen kommen.

Als Stadträtin lerne ich, wie es abläuft in Aufsichtsräten, in Verwaltungsräten. Ich erlebe, wie sich deren Mitglieder, wenn es um Großprojekte wie z.B. die Opernsanierung geht, mit einer dreißigseitigen Tischvorlage als Informationsgrundlage abspeisen lassen und diese für ausreichend halten, um grünes Licht für Maßnahmen in dreistelliger Millionenhöhe zu geben. Kaum einer scheint wissen zu wollen, wie solche Unsummen zusammenkommen. Im Gegenteil – je höher die Beträge, um die man diskutiert, desto rascher wird abgenickt und bewilligt. Und dann finde ich mich regelmäßig wieder als diejenige, die den Finger hebt für die einzige Gegenstimme. Ich staune. Ich staune, bis mir klar wird, dass ich mich offenbar in Organisationsstrukturen bewege, in denen die Exponenten so festgezurrt in scheinbaren Sachzwängen sind, dass einfach nicht dagegen anzukommen ist. Und deshalb wundere ich mich nicht mehr, warum 2013, als wir nach der Bekanntgabe der Unwirtschaftlichkeit von S21 durch Bahnchef Grube so guter Hoffnung waren, dass der Maulwurfbahnhof nun im Orkus verschwinden würde, warum damals der Aufsichtsrat der Bahn für den Weiterbau stimmte.

Ich muss, mit meinen Erfahrungen aus zweieinhalb Jahren Stadtrat, sagen, dass meine Hoffnungen, auf Parlamentsebene und mit deren Instrumenten etwas zu erreichen und nachhaltig zu verändern, nicht größer geworden sind.

Das Wort Bürgerbeteiligung ist derzeit verdächtig oft in aller Munde. Schaut man näher hin, dann bekommt man es zu tun mit weitschweifigen Konzepten und Evaluierungsprozessen, die unendlich Zeit und Geld verbrennen, und am Ende gebiert der Berg, wenn überhaupt, eine Maus. Vieles von dem, was als Bürgerbeteiligung daherkommt, sind Feigenblätter oder Mogelpackungen. Da soll die Bevölkerung „eingebunden“ und „mitgenommen“ werden – bei Entscheidungen, die nicht mehr im Prozess, sondern längst gefallen sind. Oder die guten Vorschläge der engagierten Bürgerinnen und Bürger verlaufen im Sand.

Ich bin mehr denn je der Überzeugung: Die einzige Bürgerbeteiligung, die wirklich eine ist, die den Namen verdient und als solche ernstzunehmen ist, ist die außerparlamentarische in der Form der Demonstration.

Und deshalb, Freundinnen und Freunde: Gott sei Dank seid Ihr noch da; es ist gut, dass Ihr da noch steht.

Ich bin Euch dankbar, dass es Euch gibt, dass Ihr nicht aufgebt, dass Ihr Euch immer noch jeden Montag zeigt. Dass Ihr der Wahrheit ein Gesicht gebt.

Genaugenommen ist es Eure Präsenz, die mich ermutigt und nicht verzweifeln lässt.

Auch wenn wir unser Ziel, Stuttgart 21 zu stoppen, nicht oder noch nicht erreicht haben, es gibt dennoch Früchte unserer Bürgerbewegung, die sich sehen lassen können:

Stuttgart ist politischer geworden. Noch vor S21 wäre niemand wegen Feinstaub oder für Vielfalt auf die Straße gegangen. Dem Instrument Demonstration, das vor S21 praktisch tot war, habt Ihr über den S21-Widerstand zu neuem Auftrieb verholfen.

Es gibt hier in Stuttgart eine große Zahl Gleichgesinnter, von denen man nicht nur durch Umfragen oder aufgrund von Wahlergebnissen weiß, sondern die man kennt. Wir kennen einander – als reale Menschen, mit denen wir uns verabreden, etwas auf die Beine stellen, Widerstandsaktionen vorort generieren. Mit dem Parkschützeralarm hat es einst angefangen; mittlerweile gibt es ein Netzwerk, das präsent und sofort abrufbar ist.

Es gibt wenig Städte, die sowas haben wie wir.

Daswegen kann diese meine Rede auch heute nur münden in einen Appell: Den Appell, weiter dazu sein.

Ich bitte Euch:

Bewahrt Euch Euren klaren Blick!

Haltet fest an Eurem langen Atem!

Verliert nicht Euren Humor!

Lasst Euch nicht verbittern!

Bitte hört nicht auf!

Macht weiter!

Macht weiter als das Gewissen dieser Stadt, wie wir es in der Vergangenheit an 360 Montagen getan haben! Geht weiter dafür auf die Straße, dass die stichhaltigen Argumente gegen S21 im Bewusstsein bleiben und haltet auf diese Weise in unserer Stadt einen Platz für die Wahrheit frei! Es muss am Ende, wenn das Projekt in Teilen oder komplett scheitert, jemanden geben, der herzlich oder von mir aus gerne auch hämisch lacht und sagt: Seht ihr, wir haben es doch immer gesagt! Wer zuletzt lacht, lacht am besten. Deswegen bleiben wir mutig, deswegen bleiben wir standhaft, deswegen bleiben wir oben!